Nuclear power

«Kernenergie ist keine Lösung für den stark steigenden Strombedarf vor 2050»

Interview
Interview Dr Urs Neu cover

Während der Bundesrat das Verbot für den Bau neuer Kernkraftwerke aufheben will, haben die Akademien der Wissenschaften Schweiz am 1. Juli einen Bericht zu diesem Thema veröffentlicht. Wir haben Urs Neu, Leiter der Energiekommission und Erstautor dieser Studie, dazu befragt.

Wird die Schweiz wieder auf Atomkraft setzen? Diese Frage ist in aller Munde, seit Energieminister Albert Rösti seine Absicht bekannt gegeben hat, das Verbot für den Bau neuer Kernkraftwerke aufzuheben. Das Aus war 2017 nach der Katastrophe von Fukushima vom Volk beschlossen worden. 

Im August 2024 veröffentlichte Greenpeace Schweiz eine Broschüre mit dem nüchternen Titel «Atomkraft hat keine Zukunft». Im Lager der Befürworter sammelte die Initiative «Stopp dem Blackout» im gleichen Jahr fast 130’000 Unterschriften. In die meist stark polarisierende Debatte wollen die Akademien der Wissenschaften Schweiz rationale und wissenschaftlich fundierte Argumente einbringen. Im Juli 2025 veröffentlichten sie den Bericht «Perspektiven der Kernenergie in der Schweiz». Erstautor Dr. Urs Neu, Leiter der Energiekommission der Akademien der Wissenschaften Schweiz, erläutert im Gespräch mit «Swissquote Magazine» Pro und Kontra in dieser Debatte. 

Der Bundesrat befürwortet die erneute Nutzung von Kernenergie in der Schweiz. Wie lässt sich dieses Comeback einer Energiequelle erklären, die nach Fukushima als begraben galt?

Die Stromversorgung der Schweiz steht vor einer grossen Herausforderung: Der Verbrauch steigt, insbesondere aufgrund der Elektrifizierung der Gesellschaft (Mobilität, Heizung, Industrie, Rechenzentren). Zugleich verlangt die Umweltstrategie eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen. In diesem Zusammenhang erscheint Kernenergie als eine Lösung. Sie produziert viel Strom und verursacht dabei nur wenig CO₂. Ein weiterer Vorteil: Kernreaktoren erzeugen kontinuierlich Energie, was zu einem Ausgleich des Systems beitragen kann, da erneuerbare Energien nur zeitweise Strom produzieren.

Ist das grösste Hindernis für ein Comeback die Zurückhaltung der Schweizer Bevölkerung gegenüber der Kernenergie?

Das ist in der Tat ein zentraler Aspekt, da darüber abgestimmt werden muss. Die Ablehnung der Kernenergie zeigt jedoch eine andere Charakteristik als die (teilweise) Ablehnung erneuerbarer Energien. Im Fall der Windenergie handelt es sich vor allem um einen lokalen Widerstand – von Menschen, die nicht in der Nähe von Windrädern leben und die Landschaft unberührt lassen möchten –, während die Bevölkerung auf kantonaler und nationaler Ebene Windkraftanlagen eher befürwortet. Bei der Kernenergie ist es umgekehrt. Die Menschen, die in Gemeinden mit Kernkraftwerken leben und von Vorteilen wie insbesondere niedrigeren Steuern profitieren, wären eher bereit, einen neuen Reaktor in ihrer Nähe zu akzeptieren. Auf kantonaler und Bundesebene ist die Bevölkerung hingegen viel stärker gespalten. Der Grund dafür ist einfach: Bei einem Atomunfall wäre nicht nur die Bevölkerung in der unmittelbaren Umgebung des Reaktors betroffen, die dieses Risiko akzeptiert hat, sondern ein grosser Teil der Schweiz.

Sind die Schweizer Kernkraftwerke sicher, wenn man bedenkt, dass unser Land mit Beznau das älteste Kernkraftwerk der Welt besitzt, das 1969 in Betrieb ging?

Die Schweiz hat in diesem Bereich besondere Vorschriften: Die Reaktoren haben keine festgelegte Lebensdauer, müssen aber ständig modernisiert werden, um dem aktuellen Stand der Sicherheitsanforderungen zu entsprechen. Unsere Kraftwerke sind daher heute sicherer als zur Zeit ihres Baus. Wenn wir uns für den Bau neuer Reaktoren entscheiden, werden diese theoretisch noch sicherer sein. Das Unfallrisiko ist also minimal. Aber es ist nicht gleich null, und die Folgen eines Unfalls wären dramatisch: «Very low risk, very high impact.» Die Bewertung und Akzeptanz eines solchen Risikos ist sehr subjektiv. Sie hängt von der Beurteilung der Einzelpersonen ab. Ist man bereit, ein extrem geringes Risiko einzugehen, das jedoch gigantische Folgen haben kann? Die Bevölkerung wird entscheiden.

Laut einer Studie des VSE, des Dachverbands der Schweizer Stromwirtschaft, dürfte der Stromverbrauch bis 2050 auf 90 Terawattstunden pro Jahr steigen. 2024 waren es noch 57 Terawattstunden. Lässt sich dieser Bedarf ohne Kernenergie decken?

Im Prinzip ja. Es kommt ganz darauf an, wie rasch der Ausbau erfolgt und wie das Energiesystem aufgebaut ist und gesteuert wird. Intelligente Stromnetze (Smart Grids) ermöglichen beispielsweise, den Verbrauch der Produktion anzupassen und, zusammen mit Batteriespeichern, tägliche Schwankungen von Stromproduktion und -verbrauch auszugleichen beziehungsweise Produktions- und Verbrauchsspitzen zu kompensieren. Das eigentliche Problem bei erneuerbaren Energien besteht jedoch darin, den im Sommer mit Photovoltaik produzierten Strom bis zum Winter zu speichern. Im Sommer wird viel mehr Solarenergie produziert als im Winter. Hier braucht es Anreize im Strommarkt, damit entsprechende Technologien weiterentwickelt und – vor allem – bestehende auch eingesetzt werden. Die Kernenergie kann einen Beitrag zur Lösung dieses Problems leisten, aber sie ist kein Allheilmittel: Sie produziert auch im Winter kontinuierlich und liefert wichtigen Winterstrom, aber sie ist – vor allem aus ökonomischen Gründen – wenig geeignet, Produktions- und Verbrauchsschwankungen auszugleichen. Auch Bandenergie muss mit Speichersystemen auf den schwankenden Verbrauch verteilt werden. Es braucht nicht nur für das Abfangen von Produktionsspitzen einen Netzausbau, sondern auch für zunehmende Verbrauchsspitzen durch Wärmepumpen und das Laden von E-Autos. Die Frage, ob ein Energiesystem mit oder ohne Kernenergie am wirtschaftlichsten ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. 

Wäre der Bau eines neuen Kraftwerks nicht so rentabel, wie behauptet wird?

Der Bau eines neuen Kraftwerks stellt für Investoren und Betreiber ein enormes finanzielles Risiko dar. Der Löwenanteil der Kosten fällt bereits beim Bau an, während die Betriebskosten relativ gering sind. Die Rentabilität hängt deshalb stark von den Baukosten und der Auslastung des Kraftwerks ab. Heute wird für die Amortisation eines Reaktors meist mit einer Betriebsdauer von 60 Jahren gerechnet. In einer Welt mit einem liberalisierten Energiemarkt, der von erneuerbaren Energien dominiert wird, ist die Auslastung jedoch unklar, insbesondere im Sommer. Denn dann ist mit Stromüberschüssen durch Solaranlagen zu rechnen. Wenn Sie Ihr Kernkraftwerk im Sommer abschalten müssen, weil die Strompreise sehr tief oder sogar negativ sind, steigen die durchschnittlichen Stromkosten pro Kilowattstunde entsprechend.

Ausserdem hängen die Kosten eines Kraftwerks nicht nur von den Baukosten ab (die französischen Rechnungsprüfer schätzen beispielsweise die Gesamtkosten des EPR-Reaktors in Flamanville, der im Dezember 2024 in Betrieb genommen wurde, auf 23,7 Mrd. Euro, Anm. d. Red.), sondern auch von den Zinssätzen über einen Zeitraum von 60 Jahren. Wie sich diese entwickeln werden, ist jedoch unmöglich vorherzusagen. Zwar ist das für ein Windkraftwerk nicht grundsätzlich anders, aber erstens sind hier die Amortisations- und Bauzeiten viel kürzer (rund 20 Jahre), und zweitens ist der zu investierende Betrag, der dem Rentabilitätsrisiko ausgesetzt ist, etwa um den Faktor 1’000 kleiner. Für ein Kernkraftwerk braucht es wohl nicht nur staatliche Unterstützung als Investitionshilfe, sondern auch, zumindest teilweise, für die Abdeckung der Investitionsrisiken. Wenn man sich ansieht, was anderswo auf der Welt geschieht, werden alle heute gebauten neuen Kernkraftwerke von der öffentlichen Hand subventioniert, indem sie einen Teil der Investitionskosten und -risiken übernimmt. Ein Neubau in der Schweiz ohne öffentliche Hilfen ist nicht realistisch.

Die Schweiz ist ein reiches Land...

Wenn man die derzeitigen Sparbemühungen beim Bund anschaut, scheint das nicht so klar. Wenn die Schweiz beschliesst, den Bau finanziell zu unterstützen, muss das Gesetz geändert werden, was eine weitere Volksabstimmung erfordert. Die Bevölkerung müsste sich mehrfach äussern. Es müsste nacheinander über die Annahme der Initiative «Stopp dem Blackout» oder über den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrats abgestimmt werden, über ein Gesetz zur Finanzierung und über die Rahmenbewilligung. Zusätzlich braucht es eine Bau- und Betriebsbewilligung. Und nicht zuletzt auch den Entscheid von Investoren, ein solches Projekt unter den gegebenen finanziellen Rahmenbedingungen überhaupt in Angriff zu nehmen. Und jede dieser politischen, wirtschaftlichen und technischen Entscheidungen kann ein neues Bauprojekt verzögern oder stoppen, was das finanzielle Risiko für die Investoren weiter erhöht. 

Vorausgesetzt, das Volk wäre in allen diesen Fragen entschieden dafür. Wann könnte ein neues Kraftwerk in der Schweiz entstehen?

Auch in einem sehr optimistischen Szenario kaum vor 2050. Dazu muss eine ausländische Baufirma ausgewählt werden, da wir in der Schweiz kein Unternehmen haben, das dazu in der Lage ist. Weltweit gibt es nur eine Handvoll Firmen, die über diese Kompetenzen verfügen. Derzeit sind Rosatom (Russland) und CNNC (China) die weltweit grössten Kernkraftwerksbauer. Es ist jedoch aktuell kaum vorstellbar, dass ein russisches Unternehmen ein Kraftwerk in der Schweiz baut, und CNNC baut fast ausschliesslich in China. Der Bau einer neuen Anlage in der Schweiz würde daher wahrscheinlich einem französischen (EDF), amerikanischen (Westinghouse) oder südkoreanischen (KEPCO) Unternehmen übertragen werden. Die meisten dieser Anbieter haben oder hatten mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen.

EDF hat kürzlich den Bau von Reaktoren in Finnland und Frankreich abgeschlossen und baut derzeit zwei weitere in Grossbritannien. Alle diese Projekte waren jedoch mit Verzögerungen und Kostenüberschreitungen verbunden. Die Bauarbeiten für den EPR in Olkiluoto, die ursprünglich vier Jahre dauern und drei Mrd. Euro kosten sollten, haben schliesslich 13 Jahre gedauert und das Dreifache bis Vierfache der Kosten verschlungen, rund elf Mrd. Euro. EDF hat ausserdem den Bau von zuerst sechs und später weiteren acht neuen Reaktoren in Frankreich und zwei weiteren in Grosssbritannien geplant. Der französische Rechnungshof hat jedoch die Rentabilität der Aktivitäten infrage gestellt. Daraufhin wurde der Bau der neuen französischen Anlagen verschoben.

Westinghouse hatte seinerseits mit dem Bau von zwei Reaktoren in den USA (Vogtle) begonnen. Doch die Bauarbeiten wurden 2017 wegen Insolvenz des Unternehmens unterbrochen und mit Staatsgeldern durch andere Firmen vollendet. Die Japaner haben seit fast 20 Jahren keine neuen Reaktoren mehr gebaut und waren mit technischen Problemen konfrontiert. Bleibt noch das südkoreanische Unternehmen KEPCO. Es hat sechs Reaktoren in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) termingerecht (acht Jahre Bauzeit) fertiggestellt. Allerdings gibt es in den VAE weder Finanzierungs- oder Bewilligungsprobleme noch Volksabstimmungen. Man sieht: Es wird nicht einfach sein, ein Unternehmen zu finden, das ein Kernkraftwerk in der Schweiz bauen will und kann. 2050 ist daher ein eher optimistischer Zeitrahmen. Ein neues Kernkraftwerk ist deshalb keine Lösung für den bereits lange vor 2050 stark steigenden Strombedarf und kann auch die sukzessive wegfallende Produktion der bestehenden Kernkraftwerke allenfalls teilweise ersetzen. Und wenn, dann nur bei einer Betriebszeit der Anlagen Gösgen beziehungsweise Leibstadt von deutlich mehr als 60 Jahren. 

Könnten SMR, also kleine modulare Kernreaktoren, die a priori billiger und daher leichter zu finanzieren sind, eine Lösung für die Schweiz sein?

Derzeit befinden sich SMR noch weitgehend in der Entwicklungsphase. Sie könnten in den 2030er-Jahren kommerziell erhältlich sein, die Kosten- und Betriebserfahrung wird aber auch dann noch sehr beschränkt sein. Die Idee hinter SMR ist, Fabriken zu bauen, die viele Einheiten produzieren, um Skaleneffekte zu nutzen und Kosten zu senken. Ob dies funktioniert, muss sich erst zeigen. Aber wenn eine Fabrik zehn oder 20 SMR pro Jahr produziert, oder sogar 100, was enorm wäre, ist der Kostenvorteil dann wirklich so gross wie angekündigt? Bisher ist bei der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) erst für die 2030er-Jahre von Kostenparität mit grossen Kraftwerken die Rede. Wir sind hier nicht in der Automobilindustrie. Sollte das Konzept funktionieren, kann das eine Option sein. Aber darauf verlassen würde ich mich nicht.

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